Im Mittelpunkt steht die Wertschätzung

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Seit Anfang Februar 2019 arbeite ich als Bürokraft in der Bundes- und Landesgeschäftsstelle von TEB e. V. (Tumore und Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse) in Ludwigsburg. Neben vielseitigen anderen Tätigkeiten von TEB sind die persönlichen und telefonischen Beratungsgespräche in meinen Augen das „Herzstück“ von TEB, das, was TEB ausmacht und wohl auch der Grundstein von TEB ist: Von der Krankheit betroffene Menschen, die sich nicht selten verlassen fühlen in den Mühlen der Krankenhäuser, suchen hier Hilfe, nicht nur medizinisch, vor allem menschlich. Heute konnte ich Einblick nehmen in dieses „Herzstück“, - ich war bei einem Beratungsgespräch dabei. Mit dem Hinweis auf meine Schweigepflicht wurde als erstes abgeklärt, ob man mit meiner Anwesenheit während des Gesprächs einverstanden ist, - es gab keine Einwände.
Um sich einen Überblick zu verschaffen, damit die Beratung für den Betroffenen auch eine Wertigkeit hat, wurden Informationen ausgetauscht. Es handelt sich um die Diagnose nekrotisierende Pankreatitis, einhergehend mit starken Schmerzen.
Was Herr ... von seiner Krankheitsgeschichte erzählt, macht mich sehr betroffen. Er berichtet, dass er sich den Ärzten, seiner Erkrankung, seinen starken Schmerzen ausgeliefert fühlt und auf Morphine angewiesen ist. Er fühlt sich nicht nur ausgeliefert, sondern auch, und das wiederholt er immer wieder, „in eine Schublade gesteckt“. Nicht nur seine Krankheit, auch dieser seelische Stress machen ihn als Menschen kaputt. Es ist ihm anzumerken, wie er leidet und wie ihn die Krankheit bereits gezeichnet hat.  Körperlich abgemagert, die Stimme sowie der gesamte Ausdruck leidend.

Herrn … ist die Lebensgestaltung anderer Menschen kein Fremdwort und er selbst leitet Seminare und Beratungen. Eine Aufgabe, die in seiner jetzigen Situation sehr schwierig ist. Menschen zu beraten und zu begleiten, die mit Fragen zu ihm kommen, braucht Stabilität und eine innere Festigkeit in sich. Auch für ihn ist es wichtig, Dinge zu tun, die ihm Freude machen und die ihm gut tun!
So hat er z. B. durch seine Tätigkeit immer wieder in einem fremden Land zu tun. Am liebsten würde er dorthin reisen, um seine Tätigkeit Menschen dort zugutekommen zu lassen. Doch seine panische Angst, in der Fremde akut zu erkranken, dann nicht zu wissen, wohin er sich wenden soll, hält ihn davon ab. Wir haben ihn bestärkt, diese Reise zu unternehmen.
Wenn die Krankheit und die damit verbundenen Umstände die eigene Wertschätzung erschweren, ist es umso wichtiger, notwendige Unterstützung von Freunden zu bekommen. Zwar hat Herr …. ein schlechtes Gewissen, seine Freunde mit seinen Problemen „zuzumüllen“, Frau Stang weist aber zu Recht darauf hin, Freunde sind gerade auch in schlechten Zeiten da! Es ist wichtig, sie ins Boot zu holen, sie auch bei Arztgesprächen zur Unterstützung dabei zu haben und generell zu wissen, dass man auf sie zählen kann. Aber nicht bedingungs- und grenzenlos. Auch der Betroffene, wenn auch krank, muss mitziehen und sich aktiv zeigen bei den Hilfsangeboten seiner Freunde und sich nicht hängenlassen.
Frau …, seine Begleitung, ist bei diesen klaren Worten von Frau Stang sichtlich betroffen. Frau Stang spricht damit wohl etwas an, was sie selbst auch schon beschäftigt hat und sie als Freundin, die helfen will, in gewisser Weise hilflos macht. Auch hier kann Frau Stang ihre eigenen Erfahrungen einbringen: Auch sie wollte viel mit sich allein ausmachen und bat die Ärzte, Diagnosen zunächst nur mit ihr zu besprechen und ihren Mann herauszuhalten, um ihn nicht zusätzlich zu belasten.
Nach vielen Operationen und einem langen Leidensweg war sie körperlich wie seelisch am Ende. Auch sie kennt die Höhen und Tiefen, die positiven und negativen Seiten, die diese Erkrankung mit sich bringt.
Was ist glaubhafter und überzeugender als die Schilderung des selbst erlebten Schicksals! Eine so schwerwiegende Erkrankung verändert alles und nichts im Leben ist mehr so, wie es jemals vorher war.
Trotz allem birgt eine so schwerwiegende und lebensbedrohende Erkrankung auch die Chance in sich, genauer hinzuschauen auf sein Leben, zu erkennen, zu verändern und neu zu sortieren.  

wertschaetzung2.jpgFrau Stang versuchte es anhand eines Lebenskreises zu erklären. Jeder Mensch hat seinen eigenen Lebenskreis, der oftmals Brüche hat. Es ist die Lebensaufgabe eines jeden Menschen, dass er am Ende seines Lebens seinen Lebenskreis schließt.
Die Unterbrechungen eines Lebenskreises können schon ganz früh bereits in der Kindheit entstanden sein, und im Laufe des Lebens können immer mehr dazu kommen. Wenn sie noch nicht gelöst sind, kann es sein, dass man ihnen immer wieder begegnet und sie im Laufe eines Lebens immer wieder Probleme be- reiten. So könnte es auch im Falle von Herrn … sein.

Beim Zuhören ist es Herrn … anzumerken, dass er versteht, worum es Frau Stang geht. Es schreit eben auch die Seele, wenn der Körper krank ist und er scheint eine Ahnung zu bekommen, wo in seinem Lebenskreis es diese unrunden Stellen gibt, die sich anzuschauen wichtig für eine ganzheitliche Heilung ist.
Frau Stang hakt nach, ob ihre Schilderung bei Herrn ... etwas anstößt. Er erkennt, dass er den Ärzten zu viel Macht gibt, sich kleinmacht, ihm z. B. nicht zusteht, Schmerzmittel, Morphin, zu bekommen und er fast Panik davor hat, dass der Arzt sie ihm nicht verschreibt. Wieder spricht er von der „Schublade“, in die er seiner Meinung nach gesteckt wird.


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Ist die eigene Wertschätzung verschüttet?
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Frau Stang war im Gespräch immer darauf bedacht, da sie weder Ärztin noch Psychologin ist, trotz ihrer klaren Worte nicht zu weit zu gehen und ihn nicht zu verletzen. Sie konfrontierte ihn neben vielen anderen Fragen mit der Frage nach seiner eigenen Wertschätzung, die bei ihm im Moment verschüttet scheint.  Der Bauchspeicheldrüse, die oftmals sehr stiefmütterlich behandelt wird, sagt man nach, dass es das Organ ist, das die Süße des Lebens verkörpert. Streikt die Bauchspeicheldrüse, kann das ein Zeichen dafür sein, dass sich der Mensch enttäuscht, abgelehnt und ohne jegliche Wertschätzung fühlt. Es ist dringend notwendig, dass Körper und Seele behandelt werden und beide wieder in Einklang kommen.
Das Gespräch neigte sich dem Ende. Und man konnte erkennen, dass es bei Herrn … und seiner Begleiterin nachwirkte. Fr. Stang gibt ihm mit, dass sie ihn sehr wertschätzt, dass er sich melden soll bei ihr, weil es sie interessiert, wie es ihm weiter ergeht. Wenn man vergleicht: „Vor dem Gespräch - Nach dem Gespräch“, so ist für mich wahrnehmbar, dass Herr ... mit einer veränderten Ausstrahlung unser Büro verlässt. Unsere Empfindung war, er geht innerlich aufgerichtet, ein Lächeln in seinen Augen. Wir sahen ihm wie auch seiner Begleiterin an, sie nehmen etwas mit, was sie stärkt und in ihnen arbeitet.

wertschaetzung3.jpgSelbstverständlich verläuft jedes Beratungsgespräch anders und hängt ab von dem Ratsuchenden, seiner Persönlichkeit, seiner Diagnose. Nachdrücklich war für mich Frau Stang in ihrer Art, das Gespräch zu führen: Ihre Offenheit, ihre Bereitschaft, sich auf den anderen einzustellen, ihre Empathie, ihre klare und schnörkellose Sprache, dennoch nie verletzend und immer im Blick behaltend, keine Grenzen zu überschreiten, mit dem Ziel, dem Ratsuchenden neben ganz konkreten Informationen eine Perspektive mitzugeben, die ihn stärkt und im Annehmen seiner Erkrankung nach vorne blicken lässt. Auch in mir klingt dieses Gespräch nach. In meinen Augen ist Selbsthilfe, egal um welche Erkrankung es sich handelt, ein unverzichtbarer Aspekt. Fraglos ist größtmögliche medizinische Kompetenz unerlässlich. Ich denke jedoch und das auch aus eigener Erfahrung mit Selbsthilfe, die gewissermaßen „wahren Experten“ sind eben auch die Menschen, die am eigenen Leib Krankheit und Leid erfahren haben.
Es sind diese weitergegebenen Erfahrungen, die menschlich verbinden. Ein Satz wie:  „Ja, das verstehe ich…..“ kann viel bewirken. Neu für mich ist neben der Gruppenarbeit in der Selbsthilfe das individuelle persönliche Beratungsgespräch von Betroffenen mit Frau Stang, so wie ich es heute erlebt habe. Beides sind Anker, die Unterstützung und Kraft geben, um - trotz allem und in dem Wissen um eine Hüllen spendende Gemeinschaft - nach vorne zu schauen.

Mitarbeiterin von TEB e. V.



Vier Wochen später

Vier Wochen später fand ein erneutes Beratungsgespräch mit dem Betroffenen statt, das mich wieder einmal in besondere Weise forderte, sehr erschrocken und betroffen machte. Im ersten Beratungsgespräch habe ich den Betroffenen aufgefangen und ihn gebeten, zu seinem behandelnden Arzt zurück zu gehen. Ich habe ihm Mut und Zuversicht gegeben, dass er bei seinem behandelnden Arzt gut aufgehoben ist, verstanden und versorgt wird. Völlig verändert und in einem sehr schlechten körperlichen wie seelischen Zustand saß der Betroffene mit seiner Begleitung erneut vor mir. Ich sah und spürte, dass es ihm schlechter ging als vorher und er ganz offensichtlich wahnsinnige Schmerzen hatte.

wertschaetzung4.jpgVöllig aufgelöst und weinend saß der Betroffene da und berichtete, wie es ihm in den letzten vier Wochen ergangen ist: „Ich kann einfach nicht mehr, ich will doch nur wieder ohne Schmerzen sein! Warum glaubt mir denn niemand, dass ich wahnsinnige Schmerzen habe und warum hilft mir keiner?“
Um mir ein Bild zu machen, fragte ich, wann er das letzte Mal bei seinem behandelnden Arzt war und was er ihm geraten habe. Er sagte, er sei gestern dort gewesen und man habe ihm nicht helfen können. Er sagte: „Man riet mir, entweder heute wieder zu kommen oder in eine Klinik für Psychiatrie zu gehen. Aber ich bin doch nicht psychisch krank, sondern ich habe Schmerzen.“
Immer wieder hatte ich in diesem Gespräch das Gefühl, dass der Betroffene unter einem solchen seelischen Druck stand, dass ich mir nicht sicher war, ob er eine Dummheit machen würde, die gravierende Folgen haben könnte. Da ich aber eine Fürsorgepflicht habe und ich einen Betroffenen, der mir signalisiert, dass er sich in einen Ausnahmezustand befindet, nicht einfach gehen lassen darf, muss ich in der Regel professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Wie so oft erreichte ich nur die Sprechstundenhilfe und spürte, auch wie so oft, einen großen Widerstand, als ich mein Anliegen vorbrachte. „Ich kann Ihnen keine Auskunft geben, ich brauche das Einverständnis des Betroffenen“. Nachdem sie dies von dem Betroffenen und auch von seiner Begleitperson erhalten hatte, hörte sie mich an. Natürlich ist es nicht üblich, dass eine Selbsthilfeorganisation das Gespräch mit dem behandelnden Arzt sucht, um eine Lösung zu finden. Das Gespräch verlief nach anfänglichen Schwierigkeiten sehr angenehm und die Dame versprach, dass sie sich darum kümmern würde, ihre Chefin zu erreichen. Was sie auch tat. So gegen 13.30 Uhr kam der ersehnte Anruf, es wurde ein sehr langes und intensives Gespräch, in dem ich versuchte, meine Sichtweise darzustellen.

Ich hatte wirklich Sorgen um diesen Menschen und machte auf die besondere Fürsorgepflicht aufmerksam. In diesem jetzigen Zustand konnte und wollte ich ihn nicht alleine lassen. Der behandelnde Arzt sprach mit dem Betroffenen, seiner Begleitung und mir. Es stand im Raum, dass ich den Notarzt holen sollte und dieser sollte ihn in eine Klinik einweisen. Oder wenn ich es schaffe, ihn zu beruhigen, solle er morgen notfallmäßig in die Praxis kommen, man wird sich um ihn kümmern.
Es war ein sehr angenehmes, offenes und wichtiges Gespräch und ich hatte den Eindruck, das der behandelnde Arzt auch nach Lösungen suchte, seinem Patienten zu helfen. Zusammen schafften wir es, den Betroffenen zu beruhigen. Er versprach, dass er sich nichts antut und dass er morgen in die Praxis geht. Sollte sein Zustand bis dahin nicht besser sein, lässt er sich einweisen.


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Ich habe mir die Aufgabe gestellt, Menschen in Not zu helfen
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Mir steht es nicht zu, über einen Menschen zu urteilen oder ihn in eine Schublade einzusortieren. Mir ist es auch völlig egal, ob er körperlich oder seelisch krank ist und ob er Drogen wegen seiner Schmerzen nimmt oder ob er einfach nur abhängig ist.
Ich habe mir die Aufgabe gestellt, Menschen in Not zu helfen und dieser Betroffene war in sehr großer Not, und dies auf allen Ebenen. Diese lange, intensive Beratung, die weit über die Grenzen einer Selbsthilfe hinausging, in der ich auf sehr viel achten und einiges bedenken musste, damit ich nichts falsch machte, war überaus anstrengend und kräftezehrend.

Nachdem ich mit seiner Begleitung und seinem Schmerztherapeuten gesprochen hatte und man eine deutliche Verbesserung verspürte, ließ ich ihn nach Hause gehen.  Dies jedoch nicht, ohne dass er mir und seiner Begleitung versprach, dass er sich morgen wie vereinbart bei seinem behandelnden Arzt meldet und dieser die Behandlung wie eben versprochen, entweder ändert oder nach anderen Wegen sucht.
In diesem Fall war die Zusammenarbeit mit Arzt und Selbsthilfe zum Wohle des Betroffenen gut gelaufen. Leider ist das nicht immer und in jedem Fall so. Was wieder einmal zum Vorschein kam, ist die Tatsache, dass das Gespräch mit dem behandelnden Arzt und der Selbsthilfe ungeheuer wichtig ist. Man kann oftmals gemeinsam sehr viel erreichen und bewegen, was letztlich auch der Allgemeinheit viel Geld spart. Selbsthilfe ist keine Konkurrenz, kein Feind, sondern sie sieht manches anders als die Ärzte. Selbsthilfe hat die erfahrene Kompetenz und paart diese mit eigener Erfahrung. Das eigene Schicksal, Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen haben oftmals einen hohen Stellenwert bei Betroffenen, denn sie sehen einen Menschen, der ähnliches erlebt hat und es geschafft hat, wieder ins Leben zurückzukommen.
wertschaetzung5.jpgIch werde immer versuchen, bei Problemen, Sorgen, Nöten oder Beschwerden unseren Mitgliedern, für die ich verpflichtet bin, zu helfen, indem ich bei Bedarf mit dem behandelnden Arzt spreche und um Hilfe und Unterstützung bitte. Seit ich mich um Betroffene mit dieser schweren Erkrankung kümmere, habe ich überwiegend nur gute Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit Ärzten und Kliniken gemacht. Gemeinsam sind wir stark! Ärzte und wir von TEB Selbsthilfe wollen für den Betroffenen nur das Beste, wenn auch oftmals auf unterschiedliche Weise. Diesem Betroffenen konnte ich zumindest an diesem Tag helfen und ihm eine Einweisung in die Psychiatrie ersparen. Ob es von Dauer sein wird, muss man erst abwarten.

Was mich besonders freute: Nachdem die Tränen getrocknet waren, das Leid gelindert und die Angst genommen war, lachte er und meinte: „Frau Stang, wenn ich wieder einigermaßen gesund bin, werde ich Sie und den Verein unterstützen. Ihre Arbeit zum Wohle der Betroffenen finde ich wertvoll und wichtig!“

Katharina Stang