Angehörige leiden mit

Seit fast 20 Jahren kümmere ich mich um Betroffene mit Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse, insbesondere Bauchspeicheldrüsenkrebs, und ihre Angehörigen.
Geprägt durch meine eigene Erfahrung während und mit der Erkrankung wusste ich, Angehörige sind unersetzbar und sie erbringen eine hochkarätige Leistung. Sie sind immer da und setzen sich unermüdlich für Partner, Eltern, Geschwister, Großeltern usw. ein. Es wird so leicht in der Öffentlichkeit gesagt, dass die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs die ganze Familie wie ein Blitz trifft und auch von ihr bewältigt werden muss. In vielen Begegnungen, Gesprächen, Begleitungen und Beratungen stelle ich immer wieder fest, dass Angehörige nicht die nötige Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Anerkennung bekommen, die sie eigentlich bekommen müssten. Oft fühlen sich Angehörige hilflos, überfordert und total unverstanden. Keiner kümmert sich so richtig um sie, man erwartet, dass sie alles tragen, immer präsent sind und auch gut funktionieren.
Immer wieder kommen Angehörige in die verschiedenen Gruppentreffen und suchen dort Hilfe, Rat und Informationen. So war es auch bei einem der letzten Treffen, als eine junge Frau schilderte, wie es ihr, ihrer Mutter und ihren Geschwistern ergangen ist, als die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs gestellt wurde.
Bei ihrem Vater wurde bei einer Routineuntersuchung beim Hausarzt mittels eines Ultraschalls etwas auf der Leber gesehen, was man nicht eindeutig zuordnen konnte. Es wurde ihm eine Überweisung zu einem Facharzt ausgestellt mit der Bitte um weitere Abklärung. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Arzt kam man zu der Überzeugung, dass es besser wäre, ins Krankenhaus zu gehen, um eine klare und sichere Diagnose stellen zu lassen.
Es folgten Blutuntersuchungen, CT, Magen-Darmspiegelung, Ultraschall mit Gewebeentnahmen u. v. m. Nach wenigen Tagen wurde ihrem Vater am Krankenbett eröffnet, dass man bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt hätte, der aber noch nicht in andere Organe metastasiert hätte. Das Gespräch endete mit dem Satz: „Lassen Sie sich schnellstens operieren, es ist Ihre einzige Chance auf Heilung. Überlegen Sie es sich.“ Daraufhin ließ man ihn alleine zurück.
Völlig verzweifelt rief ihr Vater zu Hause an und erzählte ihrer Mutter, was er soeben mitgeteilt bekommen hatte. Ihre Mutter war sprachlos und rief sofort bei ihr und ihrem Bruder an.
„Wir alle waren völlig durch den Wind und fragten uns, warum man mit diesem Gespräch nicht gewartet hat, bis einer von uns bei meinem Vater war, man wusste doch, dass wir jeden Tag zu Besuch kamen. Hier hat man die Angehörigen einfach ignoriert, obwohl eine Patientenverfügung vorlag, in der wir als Ansprechpartner eingetragen sind.
Später gingen wir mit gemischten Gefühlen ins Krankenhaus und versuchten, unseren Vater etwas aufzubauen. In diesem Zusammenhang sprachen wir auch über die Opera- tion, von der keiner von uns wusste, ob sie Sinn machen und den erwünschten Erfolg bringen würde.
Wenige Tage später willigte mein Vater in die Operation ein, nachdem er immer wieder hörte, dass es wohl das Beste sei und er nicht zu lange warten solle, damit der Tumor noch vollständig entfernt werden könne. Er glaubte, nach der Operation sei er geheilt.

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Niemand beantwortete unsere Fragen
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Uns Angehörigen wurde nur gesagt, dass sich unser Vater zur Operation entschieden hätte und dass es wohl das Beste für ihn sei. Keiner gab sich große Mühe, uns mit einzubeziehen oder gar unsere Fragen zu beantworten.
Nachdem die Operation durchgeführt worden war, ging es unserem Vater den Umständen entsprechend ganz ordentlich.
Wieder saßen wir am Bett und warteten geduldig, dass uns ein Arzt über Verlauf und Ausgang der Operation eine kompetente Rückmeldung geben würde.

Angehoerigeleidenmit2.jpgNichts dergleichen passierte. Wir wurden Stunde um Stunde von den Schwestern vertröstet mit den Worten: „Der Arzt kommt und spricht mit Ihnen, im Moment ist er aber in der Visite, danach muss er in den OP und ob er es dann zeitmäßig schafft, heute zu Ihnen zu kommen, kann ich im Moment nicht sagen.“
Nachdem wir einige Zeit auf das Gespräch gewartet hatten, beschwerten wir uns lautstark und erst dann fand das Gespräch statt. Zum ersten Mal erfuhren wir, dass unserem Vater die komplette Bauchspeicheldrüse entfernt worden war und nicht wie vorgesehen nur ein Teil, dass die Operation nicht den gewünschten Erfolg brachte und der Tumor nicht vollständig entfernt werden konnte.
Wir fragten, wieso uns niemand darüber informiert oder aufgeklärt hätte. Darauf meinte der Arzt: „Ich habe Ihren Vater bestens aufgeklärt und ihm auch erklärt, dass es durchaus sein könne, dass die gesamte Bauchspeicheldrüse entfernt werden muss und dass der Tumor im schlimmsten Fall nicht vollständig entfernt werden kann. Gleichzeitig informierte ich ihn, dass es auch sein könne, dass er ein Leben lang Enzyme nehmen müsse und einen Diabetes 3 c entwickeln könne.“
Wir waren sprachlos über das Gehörte, verstanden die Welt nicht mehr und dachten nur, warum lässt man die Angehörigen in solch wichtigen Entscheidungen außen vor? Hätte man nicht das Gespräch mit allen führen sollen oder müssen? Auch wenn mein Vater die Einwilligung zur Operation gab, wissen wir heute, dass er sich nicht im Klaren war, was er unterschrieb.
Wenige Tage später stellten sich unvorhersehbare Komplikationen ein und es folgten weitere Operationen und Behandlungen, unter anderem musste ein Bein amputiert werden.
Der Schock und die Tatsache, dass mein Vater an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist, die gesamte Bauchspeicheldrüse entfernt werden musste, er jetzt Diabetiker ist und ihm außerdem noch das Bein amputiert wurde, hinterlässt körperliche, seelische und psychische Spuren, die man nicht einfach wegwischen kann.
Nach einigen Wochen Krankenhausaufenthalt sollte mein Vater in eine AHB (Anschlussheilbehandlung), doch leider fand sich so schnell keine Klinik, die ihn aufnehmen konnte, alle waren ausgebucht.
Im Krankenhaus konnte mein Vater auch nicht bleiben, da er aus deren Sicht soweit hergestellt war, dass ein stationärer Aufenthalt nicht mehr notwendig und vertretbar war. Es wurde uns im Krankenhaus vorgeschlagen, meinen Vater erst einmal nach Hause zu holen, bis ein Platz in der Reha frei sei oder ihn kurzfristig in einem Pflegeheim unterzubringen.
Meine Mutter, ich und meine Geschwister waren entsetzt und fragten, wie das gehen solle? Wir konnten im Moment die notwendige Pflege und Wundversorgung nicht abdecken. Wir sind alle berufstätig, wohnen nicht in der nahen Umgebung und ich selber habe ein kleines Kind, das versorgt werden muss.
„Wir verstehen Ihre Ängste und Sorgen“, meinte eine Schwester, „doch wir sind hier kein Pflegeheim und auch kein Hotel, bitte geben Sie uns umgehend Bescheid, wie Sie sich entscheiden, damit wir die Verlegung Ihres Vaters einleiten können.“
Völlig verstört fassten wir den Entschluss, unser Vater kommt nicht ins Pflegeheim! Wir werden alles daran setzen, dass wir ihn zu Hause versorgen, auch wenn wir im Moment nicht genau wussten, wie wir es schaffen sollten.“
Alle im Raum hörten zu, es machte uns alle sehr betroffen, die junge Frau so hilflos und weinend zu sehen.
Wir spürten alle, dass sie psychisch am Ende war und dringend psychologische Hilfe benötigt. Behutsam fragte ich: „Haben Sie sich professionelle Hilfe geholt, die Ihnen, Ihrem Vater und Ihrer Mutter in dieser ausweglosen Situation helfen könnte?“
Sie antwortete: „Ja, wir haben es zumindest bei meinem Vater versucht. Es kam auch ein Psychologe auf Anforderung von uns ans Krankenbett meines Vaters und versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, was leider nicht sofort klappte, da mein Vater nicht offen und auch nicht sonderlich gesprächig war. Danach kam kein Psychologe mehr zu meinem Vater.
Meiner Mutter wurde auch gesagt, dass sie Anspruch auf psychologische Betreuung hat, sie soll sich einen niedergelassenen Psychologen suchen. Überall, wo wir anriefen, wurde gesagt, im Moment seien keine Termine frei, melden Sie sich in ca. 6 Monaten wieder.
Wir fühlen uns alleine! Wer kümmert sich um uns Angehörige, wenn professionelle Hilfe nicht in Anspruch genommen werden kann?
Seit der Entlassung aus dem Krankenhaus kümmern wir uns abwechselnd um meinen Vater und um unsere Mutter, die mit der Situation völlig überfordert ist, da auch sie gesundheitlich sehr angeschlagen ist.
Morgens und abends kommt ein ambulanter Pflegedienst und unterstützt uns in der Wundversorgung, beim Waschen, Baden, Spritzen usw. Den Rest des Tages liegt die gesamte Versorgung und Pflege sowohl körperlich als auch psychisch an uns.

Es lastet enorm viel auf uns!

Wir Geschwister organisieren und teilen uns abwechselnd die Pflege. Dabei nehmen wir weite Fahrten zu unseren Eltern in Kauf, übernehmen notwendige Fahrten zu Ärzten und helfen bei der täglichen Anforderung im Haus und bei der Pflege. Dass das eine zusätzliche Belastung für uns alle ist, steht außer Frage, doch wir machen es gerne, wir lieben unsere Eltern.“
Leider ist diese Geschichte kein Einzelfall und es machte mich sehr betroffen und traurig, dass Angehörige wenig Anerkennung und Wertschätzung bekommen. Sie leisten enorm viel und sind auch unendlich wichtig.
Dieses Gruppentreffen war genauso traurig und bewegend, wie wenn ein Betroffener seine Erfahrungen und Eindrücke geschildert hätte. Und doch gab es einen großen Unterschied, die junge Frau hatte Sorge um ihren Vater, ihre Mutter und zusätzliche Sorgen mit sich selber. Sie musste funktionieren, indem sie ihre Eltern und ihre eigene Familie versorgte. Sie gab alles, damit niemand auf der Strecke bleibt, außer sie selbst. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte. Ich bin fast am Ende meiner Kraft! Doch wenn ich es nicht mehr mache, habe ich ein schlechtes Gewissen. Warum lässt man uns Angehörige mit allem allein?“
Betroffen schloss ich die Gruppe und fuhr nach Hause. Noch lange, sehr lange musste ich an diese junge Frau denken und stellte mir die Frage, wie ich dieser Familie helfen könnte und was man besser machen könnte.
Noch während ich den Artikel schreibe, bekomme ich die Nachricht, dass in der Zwischenzeit der Vater einen Platz in der Reha bekommen hat und er sich dort sehr wohl und aufgehoben fühlt und auch seine Wundversorgung adäquat durchgeführt wird. „Wir Angehörigen nutzen die Zeit, um neue Kraft zu tanken, um nach der Reha wieder präsent zu sein.“

Katharina Stang