Gruppentreffen 2019 Regionalgruppe Mittlerer Neckarraum

Betroffene und Angehörige auf der Suche nach ...

Von Januar bis November wurden bereits 12 Gruppentreffen für Betroffene und Angehörige in der Regionalgruppe Mittlerer Neckarraum abgehalten. Jedes Gruppentreffen verlief anders und keines konnte man mit dem anderen vergleichen. Ja, sie sind einmalig und nicht wiederholbar. Deshalb lassen Sie mich über das letzte Gruppentreffen am 1. Oktober 2019 berichten.

Bevor wir anfingen, stellte ich noch unsere Regeln in der Gruppe vor, die da sind:
•    Alles, was gesagt wird, bleibt in diesem Raum.
•    Wie reden wir uns an?
•    Jeder hat die Zeit und den Raum,  den er braucht.

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Wie immer stellte sich im Vorfeld die Frage, wie viele Teilnehmer heute wohl kommen würden. „Heute kommen sicher nicht so viele, denn wir haben einen Feiertag und viele werden in Urlaub sein“, meinte Herr Winter. Ich selber war sehr skeptisch und wollte auch keine Prognose abgeben. So gegen 14:15 Uhr trafen die ersten Teilnehmer ein und nahmen an den gedeckten Tischen Platz. Herr Winter, er half die Teilnehmer zu bewirten, hatte bereits Kuchen und Brezeln aufgeschnitten und auf die Tische gestellt. Da ich noch zwei Beratungen vor dem Treffen hatte, kam ich wenig später in den Gruppenraum. Freundlich wurde ich von einigen Betroffenen und ihren Angehörigen begrüßt, es war alles noch sehr überschaubar und wir dachten, heute wird es gemütlich, es kommen nicht so viele. Doch weit gefehlt, es kamen immer mehr Teilnehmer und darunter waren 6 neu Erkrankte. Sie hatten erst vor wenigen Tagen unsere Adresse durch einen Zeitungsartikel erhalten. Obwohl sie die Diagnose schon etwas länger hatten, wussten sie nicht, dass es unsere Organisation gibt.

Am Ende saßen 27 Teilnehmer da und hatten Fragen über Fragen im Gepäck. Ich merkte sehr schnell, dass es heute sehr anstrengend für mich werden würde. Um mir einen Überblick zu verschaffen, sagte ich in die Runde: „Bitte nennen Sie Ihren Namen, Ihre Erkrankung und warum Sie heute hier sind. Wer ist betroffen und wer ist Angehöriger?“ Ich nahm mir Stift und Papier und schrieb mir während der Vorstellungsrunde auf, was heute eventuell wichtig sein könnte. Dabei stellte sich heraus, dass es heute sehr vielseitig werden würde. Die Themen waren wie ein riesiger Blumenstrauß mit ganz vielen verschiedenen Blumen. Es waren Fragen zu IPMN, Operationen, Chemo, MRT, CT, Ernährung, Verdauung, Gewichtsabnahme, Enzyme und Magenkrebs, alles war dabei. Ich wusste gar nicht so richtig, wo und wie ich anfangen sollte.
Spontan entschied ich mich, den Neuen den Vortritt zu lassen und fragte: „Wer von den Neuen möchte sich näher vorstellen, über seine Erkrankung reden oder eventuell nur Fragen stellen?“ Ohne abzuwarten meldete sich eine neu Betroffene: „Ich habe die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bekommen, fühle mich total überfordert und alleine. Ich versteh gar nichts mehr, habe doch immer gesund gelebt und weder getrunken noch geraucht und jetzt diese Diagnose.“
Sofort meldeten sich Stimmen aus der Gruppe: „Mir geht es genauso, auch ich habe gesund gelebt und trotzdem habe ich seit 18 Monaten diesen aggressiven Krebs in mir.“
„Ja, und wie leben Sie damit“, war die Gegenfrage.
Nach einer kleinen Überlegungszeit kam ruhig und besonnen: „Auch mir ging es damals wie Dir, ich wusste nicht, wie ich mich verhalten und wie ich den täglichen Ablauf bewältigen sollte. Heute, seit ich in der  Gruppe bin, geht es mir um ein Vielfaches besser. Ich bekomme hier Informationen, die ich sonst nirgends bekommen habe und ich fühle mich aufgehoben und getragen.“
antworten2.jpgEs entwickelte sich eine richtige Gruppendynamik, jeder half jedem und man spürte, hier in der Gruppe sind wir alle eins, hier ist keiner alleine. Genauso soll es sein.
Als es einen Moment ruhiger wurde, sagte ich: „Bitte versucht, die Frage nach dem Warum nicht zu stellen. Ich glaube, man wird keine Antwort darauf bekommen. Schaut nach vorne und versucht, mit Eurer Erkrankung zu leben. Vergeudet keine Kraft und Energie, um nach Ursachen zu forschen, die Euch nicht weiterbringen.“
„So habe ich das noch gar nicht gesehen“, sagte eine Dame. „Ich bin froh, dass man hier über solche Dinge sprechen kann.“

Nächstes großes Thema war, warum ist mein Tumor inoperabel? Ich fragte zurück: „Haben Sie Metastasen?“ Die Antwort lautete ja. Das ist häufig der Grund, denn wenn Metastasen vorliegen, kann nach den Leitlinien oftmals nicht operiert werden. Es liegt meistens im Ermessen des Chirurgen oder man behandelt mit Chemo oder Bestrahlung vor und kann dadurch den Tumor oder die Metastasen verkleinern und damit eine Operation möglich machen.

Dann kamen die IPMN zur Sprache, was ist das, was kann man machen, wann müssen sie operiert werden, ist es richtig, sie nur zu beobachten? Es waren Fragen über Fragen, die ich gut beantworten konnte.

Gewicht, Ernährung, Enzyme, Verdauung, Durchfälle und Verstopfung - alles Themen, die immer wieder in den Gruppen vorkommen und von mir ausführlich beantwortet werden müssen.

Ich konnte diese Bereiche nur grob streifen, bot aber den Betroffenen an, zu einem persönlichen Beratungsgespräch zu kommen. Hier hätte ich Zeit, um auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Sofort meldeten sich zwei für die nächsten Tage an.

Dann kamen noch Fragen zu Operation, Chemotherapie und Nachsorge. Auch das war ein großer Komplex, der viel Zeit und Fingerspitzengefühl brauchte. Ich versuchte, so behutsam wie möglich alles zu erklären und auch die verschiedenen Chemos mit ihren Nebenwirkungen darzustellen.

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Chemo und Nebenwirkungen richtig einschätzen
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„Die Chemos sind die Soldaten, die für Euch kämpfen. Wenn es Euren Soldaten gut geht und es ihnen an nichts fehlt, z. B. gute Ernährung, Vertrauen in die Behandlung und Ziele, werden sie für Euch kämpfen. Das heißt, wenn Ihr Euch zur Chemo entschließt, sagt ja zu ihr und versucht sie anzunehmen. Vielleicht müsst Ihr auch Nebenwirkungen ertragen, denn eine Chemo ohne Nebenwirkungen gibt es nicht. Wenn Ihr aber spürt, dass unter der Chemo die Lebensqualität deutlich abnimmt, redet mit Eurem Onkologen und sucht gemeinsam nach anderen Möglichkeiten. Eine Chemo nützt nichts, wenn Ihr am Boden liegt.“
„Ja“, sagte ein Betroffener, „genauso mache ich es und seither vertrage ich die Chemo besser. Erst hier habe ich gelernt, dass ich auf mich selber achten muss und nur ich entscheiden kann, wie weit ich die Nebenwirkungen ertragen kann und will. Seit Du, Katharina, mir gesagt hast, dass man eventuell die Chemo dringend ändern muss, weil sich eine starke Polyneuropathie einstellte, hatte ich den Mut, mit meinem Onkologen zu sprechen. Ohne viele Worte wurde die Chemo geändert und jetzt vertrage ich sie besser.“

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Angehörige kommen oft an ihre Belastungsgrenzen
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Mittlerweile waren bereits 3 Stunden vergangen und ich verspürte eine deutliche Müdigkeit. Die vielen unterschiedlichen Fragen verlangten von mir einiges ab und ich war im Begriff, die Gruppe zu schließen.
Mein Blick ging nochmals in die Runde und ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich nahm wahr, dass es Betroffene oder auch Angehörige gab, die total traurig wirkten. Vorsichtig fragte ich: „Was ist los, ist noch irgendetwas offen?“
„Ja, ich kann nicht mehr“, kam es weinend aus einer Teilnehmerin heraus. Alle im Raum waren plötzlich erstarrt und schockiert. Bevor ich   reagieren konnte, weinten weitere Teilnehmer mit, es war eine Stimmung, die mich betroffen machte, aber nicht in meiner Funktion als Gruppenleiterin lähmte .

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Gefühlen freien Lauf lassen
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„Ich habe fürchterliche Angst um meinen Mann, aber er spricht nicht mit mir. Egal, was ich frage, er sagt immer, es geht. Aber ich merke, dass es nicht so ist.“
Ich gab allen Anwesenden Zeit und Raum, die Tränen fließen zu lassen und sich ganz allmählich wieder zu beruhigen. Ich wusste, dass ich jetzt keinen Fehler machen durfte. Es war in diesem Augenblick sehr wichtig, jeden wieder aus dem Tief herauszuholen. Es half nichts, ich verlängerte die Gruppe und nahm mich der Angehörigen an. „Wie geht es Euch Angehörigen im Moment? Kennt Ihr auch solche Erfahrungen? Sprecht Ihr alles mit Euren Partnern ab? Was macht Ihr, wenn Ihr nicht weiterkommt?“
Mit diesen Fragen habe ich den Ball in die Runde geworfen und jeder konnte jetzt seine Erfahrungen mit einbringen. Es meldeten sich ganz viele aus der Gruppe zu Wort. Jeder versuchte aus seiner Sicht etwas beizutragen und damit dem anderen zu helfen. Es war eine wunderbare einfühlsame Gesprächsrunde und so mancher Hinweis oder eine andere Vorgehensweise im Umgang mit dem Partner wurde kommuniziert.
„Ja, es ist gut, dass man hier auch weinen, schreien oder einfach nur seinen Gefühlen freien Lauf lassen kann. Wo kann man sonst so offen über sich, seine Krankheit und die daraus entstehenden Probleme reden?“
Wir sprachen noch sehr lange und immer wieder kam zum Vorschein, dass es richtig und wichtig ist, Betroffene und Angehörige gleichermaßen anzunehmen. Beide leiden verschieden unter dieser schweren Erkrankung. Bauchspeicheldrüsenkrebs ist eine Erkrankung, die die ganze Familie betrifft.
Allein die Tatsache, dass es mir aufgefallen ist, dass hier eine Angehörige saß, der es nicht gut ging, wurde sehr positiv in der Gruppe aufgenommen.
Meine Erfahrung und Menschlichkeit halfen mir an diesem Nachmittag, die Gruppe aufzufangen und wieder zu motivieren, nicht aufzugeben und immer offen und ehrlich miteinander umzugehen.
Nach einem langen Nachmittag konnte ich nach meinem Gefühl die Gruppe schließen. Ob es so war, überprüfte ich mit einem kurzen Feedback. Jeder konnte noch einmal sagen, wie es ihm jetzt geht und was er heute mit nach Hause nimmt. Das Fazit war, jedem ging es wieder besser und wir konnten sogar über die eine oder andere Situation lachen.
Ich war mir sicher und hatte das gute Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen und die richtigen Worte gefunden zu haben. Ich konnte sie alle wieder aus dem Tief heraus führen und nach Hause gehen lassen.
Danach musste ich mich dringend ablenken. Ich spülte das Kaffeegeschirr und mein Mann räumte den Gruppenraum auf. Gegen 20 Uhr gingen wir nach Hause. Ein langer Tag ging zu Ende. Noch in der Nacht verarbeitete ich das Erlebte, indem ich nicht schlafen konnte und diesen Artikel schrieb.

Katharina Stang