Eine Beratung ist mehr als ...

Wie so oft stand an diesem Tag eine persönliche Beratung um 10 Uhr mit dem Hinweis „Ernährung und Enzyme“ in meinem Terminkalender. Trotz großer Hitze und einem beschwerlichen Anfahrtsweg kam das Ehepaar in der Geschäftsstelle an.  Herr Pfeiffer empfing sie freundlich und bot gleich etwas zu trinken an. Nur wenige Minuten später bat ich das Ehepaar ins Beratungszimmer. Mir fiel dabei auf, dass beide in einer sehr gebeugten Haltung, traurig und etwas scheu, eintraten.

Nachdem sie Platz genommen hatten, ließ ich sie erst einmal ankommen. Ein paar Minuten Zeit der Besinnung wirken oft Wunder. In dieser kurzen Zeit der Nachdenklichkeit passiert oftmals sehr viel Zwischenmenschliches und dies kann man nicht immer beeinflussen. Sympathie und Empathie ermöglichen es, dass ein Vertrauen innerhalb kürzester Zeit aufgebaut wird.

„Wie kann ich Ihnen helfen, wo drückt der Schuh?“ So eröffnete ich das Beratungsgespräch. Beide schauten mich fragend an, so als hätte ich etwas verlangt, mit dem sie nicht gerechnet haben. Nach kurzem Zögern fing die Betroffene an zu erzählen: „Mir geht es sehr, sehr schlecht. Habe immer wieder starke Schmerzen nach dem Essen, bin schwach und lustlos. Kein Arzt findet etwas.“ Ich spürte bei ihrer Schilderung, dass eine enorme Hilflosigkeit, Angst aber auch Wut mitschwangen.

Während die Betroffene versuchte, ihre Empfindungen zu schildern, fiel ihr Ehemann ihr immer wieder ins Wort und stellte dar, wie er den Zustand und die Situation seiner Frau sieht und einschätzt. Mir wurde klar, dass auch er mit dieser schwierigen Situation komplett überfordert und hilflos ist. Seine ständigen Versuche, ihre Probleme mit Fürsorge, Hilfe, Reden und Ratschlägen zu lösen, schlugen genau ins Gegenteil um. Diese Versuche der Hilfe kamen bei ihr völlig anders an. Unsicherheit und ein Gefühl der Bevormundung waren die Folge. Die Worte „Stopp“ oder „Nein“ waren Fremdwörter und wurden nur selten angewandt. Der Körper und auch ihre Seele wehrten sich, indem sie Übelkeit, Schmerzen, Durchfälle, Lustlosigkeit, Aggressionen u. v. m. signalisierten. Grob könnte man diese Empfindungen als einen Hilfeschrei bezeichnen.

Doch wie lautete mein heutiges Thema? „Ernährung und Enzyme“, von dem wir im Moment weit entfernt waren. Deshalb versuchte ich, den Bogen auf das Ausgangsthema zu spannen. Ich fragte die Betroffene nochmals, welche Untersuchungen, Tests und Laborwerte in der Vergangenheit gemacht wurden und welche Allergien ärztlicherseits bestätigt wurden. Nur eine einzige Allergie war gesichert, alle anderen wurden von ihr vermutet. Was mich besonders erschreckte, war die Tatsache, dass sie so lebte, als hätte sie tausend Allergien. Immer mehr Verbote und Tabus in Bezug auf die Ernährung und ihre Lebenseinstellung legte sie sich selber auf. Sie vergaß zu leben. Lebensfreude und Lebensqualität schwanden immer mehr, durch die vielen Einschränkungen und die einseitige Ernährung wurde sie immer schwächer.

Mir kam der Gedanke, einen anderen Weg zu gehen, indem ich das Gespräch auf Hobbys, Beruf und Erlebnisse richtete und weg von dem Ursprungsthema Krankheit, Leid und Schmerzen. Obwohl ich kein Arzt und auch keine Psychologin bin, gelang es mir, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Dadurch konnten jahrelange Blockaden gelöst werden, Tränen konnten und durften fließen, Empfindungen und Verletzungen wurden offen angesprochen und diskutiert. Am Ende konnten zwei Menschen wieder herzhaft miteinander lachen. „Seit Jahren haben wir nicht mehr zusammen gelacht und auch nicht geweint. Danke, das tat uns richtig gut!“ So der Tenor von beiden.

Durch Zuhören, Reden, Verständnis und eigener Erfahrung konnte ich diesen Menschen helfen und das, obwohl er selber Mediziner ist und sich gut im seelischen Bereich auskennen müsste. Ja, die beiden vergaßen im täglichen Umgang das gesprochene Wort, die gegenseitige Wertschätzung und dass es Grenzen gibt und diese gesetzt und eingehalten werden müssen. Eine Kleinigkeit mit großer Wirkung! Zum Schluss nahmen sich beide in den Arm. Sie gingen fröhlich und aufrecht aus meinem Beratungszimmer und nahmen sich vor, noch den Zoo zu besuchen.

Für mich war es eine schöne, wertvolle Erfahrung und sie zeigte mir, dass man nie im Vorfeld wissen kann, welchen Verlauf eine Beratung nimmt. Deshalb sind Zeit, Zuhören und Wertschätzung das Wertvollste, was wir Betroffenen und deren Angehörigen in unserer Geschäftsstelle anbieten können.

Katharina Stang